Die Stunde der Verfassungsgerichte

Das Saarland zeigt: Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren können und sollten überprüft werden

Von Michael Heumann und Milena Holzgang. Erschienen am 30. April 2020 im Verfassungsblog.


Nun also doch: Mitten in der Coronakrise kassiert der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes Teile der örtlichen Ausgangsbeschränkungen. Zuvor hatten sich die hiesigen Verwaltungs- und Verfassungsgerichte darauf beschränkt, Versammlungsverbote, Reisebeschränkungen und Verkaufsverbote aufzuheben und sich so mit eher zaghafter Kritik an den Corona-Gesamtmaßnahmen begnügt. Auch wenn die Kontaktsperren vom saarländischen Urteil unangetastet bleiben, lässt sich der juristische Entscheid dennoch deuten als Teil eines Erwachens der europäischen Verfassungsgerichte. Jetzt schlägt ihre Stunde.

Denn abseits der deutschsprachigen Medienöffentlichkeit hatte sich schon in den Tagen zuvor Bemerkenswertes abgespielt. In zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hat die Judikative dem vielerorts vorherrschenden Gesundheitsimperativ ebenfalls einen Riegel vorgeschoben. In Tschechien und Bosnien-Herzegowina wurden bereits vor der Entscheidung in Saarbrücken erste Grundsatzurteile gegen die zur «Neuen Normalität» gewordenen Einschränkungen gefällt. Ein Prager Kommunalgericht erklärte die Ausgangsbeschränkungen für die Bevölkerung aus formalen Gründen für rechtswidrig; die tschechische Exekutive sah sich aufgrund dieses Urteils zum sofortigen Einlenken gezwungen. Das Verfassungsgericht in Bosnien-Herzegowina erklärte die dortigen Ausgangssperren für Teile der Bevölkerung für verfassungswidrig und wertete sie als Verstoß gegen die im 4. Zusatzprotokoll zur EMRK geregelte Freizügigkeit.

All diese Beispiele zeigen: Die Judikative behauptet sich überall in Europa immer noch als bedeutende rechtsstaatliche Instanz, auch inmitten der auf diesem Kontinent wohl größten Verfassungs- und Grundrechtskrise seit 1945. Ob es sich bei der Coronakrise auch wirklich um die größte medizinisch-epidemiologische Krise der letzten 75 Jahre handelt, ist dabei nicht für alle Fragen erheblich. Über die Verhältnismäßigkeit eines Teils der Maßnahmen, insbesondere derjenigen, welche in Deutschland im Infektionsschutzgesetz und in der Schweiz im Epidemiengesetz geregelt oder vermeintlich geregelt sind, lässt sich natürlich wissenschaftlich, politisch und rechtlich diskutieren.

Der innerste Kern der Grund- und Menschenrechte, die als Prinzip verankerte Menschenwürde, gilt jedoch immer und in jedem Fall, und zwar auch unabhängig von (Quasi-)Notstandsregelungen und Verhältnismäßigkeitserwägungen. Epidemiologische Faktoren sind aus dieser prinzipienethischen und menschenrechtlichen Sicht sowohl in Deutschland als auch der Schweiz nachrangig. Zuerst gehört nämlich folgende Frage auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand: Sind generelle, d.h. nicht differenzierende und pauschale Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren überhaupt legitim, und zwar prinzipiell und unabhängig von ihren epidemiologischen und medizinischen Konsequenzen? Zur Beantwortung dieser Frage muss man argumentativ ein wenig ausholen, sogar grundsätzlicher als die oben erwähnten Gerichtsentscheide.

Recht oder Gesundheit?

Die Judikative ist grundsätzlich unmittelbar dem Rechtsschutz verpflichtet und nur mittelbar dem Gesundheitsschutz, nämlich durch rechtliche Achtung derjenigen Artikel, die das Leben und die Gesundheit schützen. Nicht alles, was medizinisch oder epidemiologisch machbar ist und der Gesundheit dient, soll und darf auch aus rechtlicher und im Kern ethischer Sicht gemacht werden. Dies wurde in der Vor-Coronazeit auch selbstverständlich so gehandhabt. Eine vollständig nach Effizienzgesichtspunkten strukturierte Spenderorganallokation mag die erwarteten Lebensjahre eines Teils der Bevölkerung maximieren. Die vollständige Reduktion der Vergabekriterien auf eine Optimierung der Verteilung, z.B. durch einen Organspendemarkt, ist rechtlich dennoch unzulässig. Gleiches gilt für bestimmte Eingriffe in die menschliche Keimbahn wie das Genome Editing. Solche Eingriffe können technisch möglich sein, sogar ohne die Freiheit von ausgewachsenen Menschen unmittelbar einzuschränken, aber aus rechtlichen und ethischen Prinzipiengründen dennoch verboten werden. Und dies trotz der berechtigten Hoffnung, dass dadurch gesundheitlich bedingtes Leiden minimiert und verfrühtes Sterben verhindert werden kann.

Recht heißt also nicht «Anything goes», sondern Recht bemisst und kontrolliert anhand eines Maßstabes die Rechtmäßigkeit von u.a. staatlichen Maßnahmen zur Sicherstellung von Gütern, z.B. eben der Gesundheit. Den Maßstab bilden dabei die Menschenrechte, und dies kann ohne Zweifel den maßvollen Schutz des Rechts auf Leben durch Maßnahmen zum Schutz von Gesundheit bedeuten, auch auf Kosten von Freiheitseinschränkungen. Unbedingt ist dieses positive Schutzrecht des Staates jedoch nicht. Unbedingt ist nur die Rechtsausübung selbst, denn im Zweifelsfall heißt es: Recht schlägt Gesundheit. Das ethische und menschenrechtliche Kriterium liefert das Recht gleich selbst mit in Form seines wichtigsten Rechtsprinzips. Es ist nicht die Gesundheit, sondern die Würde des Menschen.

Menschenwürde oder Schutz auf Leben?

Die Menschenwürde – dieser «absolute […] Wert in unserem Grundgesetz», wie es der deutsche Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble als erster prominenter Politiker seit Beginn der Krise formuliert – trat in den letzten Wochen in der Diskussion in den Hintergrund und wurde von nur Wenigen explizit benannt. Nun gilt es, dass die Verfassungsgerichte prüfen, ob pauschale und nicht differenzierende Ausgangsbeschränkungen sowie Kontaktsperren überhaupt im Einklang mit der Menschenwürde stehen können. Aus ethischer und menschenrechtlicher Sicht ist dieser Einklang wohl zu verneinen.

Die Bedingungen, mit welchen die materiellen Bewegungsspielräume von Menschen in der Öffentlichkeit (Ausgangsbeschränkungen) und untereinander (Kontaktsperren) einzuschränken sind, dürfen sich nicht einfach abhängig von ungewissen zukünftigen technischen Errungenschaften (Impfstoff) machen. Genauso wenig dürfen sie sich nur von epidemiologisch-mathematischen Modellen («flatten the curve» und/oder «Austrocknungsstrategien») leiten lassen, so sehr auch die darauf aufbauenden nicht-pharmazeutischen Interventionen dem ohne Zweifel noblen Ziel der Gesundheit potenziell dienen. In diesen Modellen – die ohnehin auf unsicheren Annahmen beruhen – liefert man die Freiheitsgrade menschlicher Bewegungsspielräume, welche den materiellen Grundpfeiler eines selbstbestimmten, menschenwürdigen Lebens bilden, vollständig diesen Modellen aus. Dort werden die menschlichen Subjekte zu Objekten gemacht, im Übrigen auch ganz anschaulich dargestellt in den dynamischen Infektionskettenvisualisierungen. Eigentlich selbstzweckhafte Menschen, denen unveräußerliche Würde zu Teil wird, werden so zu reinen Mitteln reduziert, um extern vorgegebene, quantitative Gesundheitsziele zu erreichen.

Menschen ausschließlich derart zu konzeptualisieren, nämlich als epidemiologisch-mathematische Punkte, die sich untereinander gleichförmig verhalten wie undifferenzierte Objekte, ist in der politisch-praktischen Umsetzung der Bewegungssteuerung hochgradig problematisch. Menschen, die sich einzig diesem objektivistischen Bewegungsmodell unterwerfen, laufen andauernd Gefahr, sich selbst ihrer menschlichen Subjektqualität zu berauben, selbst zu Objekten zu werden. Diese aus ethischer und menschenrechtlicher Sicht zu verwerfende Fremd- und Selbstinstrumentalisierung erfolgt hier als Resultat der bereits kategorial fehlerhaften und höchstwahrscheinlich als verfassungswidrig einzustufenden Rückbindung dieser größten aller materiellen Freiheitseinschränkungen an ein quantitatives Gesundheitsoptimierungskriterium. Allenfalls könnten bedingte Freiheitseinschränkungen selbstbestimmt und fortlaufend auf Verhältnismäßigkeit geprüft von den Subjekten hingenommen werden, aber eben nur, wenn das Bestimmungs- und Verhältnismäßigkeitskriterium die unveräußerliche Würde des menschlichen Subjektes selbst ist.

Es ist das deutsche Bundesverfassungsgericht, das in einem vergleichbaren Fall 2006 denjenigen Teil des Luftsicherheitsgesetzes kassierte, welches den möglichen Abschuss eines von Terroristen entführten Passagierflugzeugs zugelassen hätte. Dies galt und gilt auch unabhängig davon, ob damit Leid verhindert und Leben gerettet werden könnte. In den Worten des Bundesverfassungsgerichtes:

«die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde [schlieβt] vielmehr generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen. […] Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt.»

1 BvR 357/05

Wer nun behauptet, der damalige Fall sei nicht vergleichbar mit den Corona-Maßnahmen, weil es im Falle des von Terroristen entführten Flugzeugs ja nebst der Objektivierung um eine aktive Tötung der Flugzeuginsassen durch den Staat geht, verkennt den Menschenwürdeartikel in seinem normativen Kern. Der oberste Rechtsgrundsatz in unseren Verfassungen ist nicht mit dem biblischen Gebot «Du sollst nicht töten!» identisch, sondern dieser lautet eben «Die Würde des Menschen ist unantastbar» bzw. in der schweizerischen Variante «Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen».

Oftmals gehen Würdeschutz und Tötungsverbot einher. Im Fall der von rein quantitativen epidemiologischen Kriterien begrenzten und bedingten Bewegungsspielräume durch die kollektiven Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren sind die beiden normativen Gebote aber nicht identisch. In der Variante der positiven Deutung, nämlich das Recht auf Leben und Gesundheit zu schützen, kann es sogar einen Konfliktfall geben. Diesen erleben wir gerade als Gesellschaft. Aber auch hier gilt: Das Prinzip der Menschenwürde greift dennoch. Und so emotional unerträglich das erscheinen mag: Es greift auch, wenn damit der Schutz des Lebens nicht in quantitativer Weise maximiert werden kann. Es mag abstrakt und kalt klingen, ist so aber nicht gemeint: Im Zweifelsfall schlägt die Menschenwürde das Recht auf Leben oder Gesundheit. Daher kommt auch den Kranken und Verletztlichsten in unserer Gesellschaft immer Würde zu. Menschlichkeit heißt auch für sie nicht einfach zwangsläufig maximale Gesundheit, sondern durch das verfassungsrechtlich garantierte Prinzip der Würde begründete Aufhebungen der pauschalen und nicht differenzierenden Kontaktsperren.

Maßstab oder Maßstablosigkeit?

Und doch könnte man entgegnen, dass in pandemischen Notstandszeiten Abstriche zu machen seien. Das Ganze sei ja schließlich zeitlich und im Ausmaß begrenzt und in solchen Fällen ginge das Retten von Menschenleben und der gesundheitliche Schutz eben doch ausnahmsweise vor. Ähnlich scheint es bisher auch das deutsche Bundesverfassungsgericht in seinen teleologischen Abwägungen bei der Verhältnismäßigkeitsbeurteilung bisheriger Eilanträge gesehen zu haben. Eine solche Beurteilung fußt aber auf dem Vertrauen in einen Verhältnismaßstab, der zeitliche Grenzen setzen kann, wie einen gesicherten Zwischenstand oder ein abschließendes Ende des pandemischen Notstands zu definieren. Tiefergehend setzt dies eine konsistente, sich nicht selbst widersprechende Begründungslogik voraus, welche überhaupt erst denklogisch die Möglichkeit zur Verhältnis- und Grenzsetzung besitzt.

Einen solchen konsistenten Maßstab kann jedoch nur die auf Selbstbestimmung und Selbstbegrenzung basierende Menschenwürde liefern, nicht jedoch die zahlengetriebenen und damit endlos auslegbaren und optimierbaren epidemiologischen Risiko- und Gesundheitsmodelle. Diese kennen kein Maß, kein Ende, und führen als Konsequenz in den gedanklichen pandemischen Dauerzustand. Eine maßvolle und befristete Abwägung anhand dieser Kriterien ist daher gar nicht möglich. Zu behaupten, dass Maßlosigkeit selbst ein Maß bieten kann, ist selbstwidersprüchlich. Dies lässt sich folgendermaßen veranschaulichen.

Schneller als das Virus wohl jemals biologisch mutieren konnte, wechselten auch die epidemiologischen Zielmaßstäbe zur Bestimmung und Bewältigung der Krise: Zuerst die Virusletalitätsrate und der Grippevergleich, später die Reproduktionszahlen und Verdopplungszeiten innerhalb der Logik «flatten the curve», und zuletzt ernsthafte (Helmholtz)-Strategien, das Virus nahezu ganz «auszutrocknen», zumindest solange, bis zeitlich unvorhersehbar ein Impfstoff vorhanden ist und derweil die Infektionsketten durch Kontaktsperren auch auf digitalem Wege zu minimieren. Hinter der Logik der ständigen Verschärfung dieser Zielvorgaben steckt nicht etwa eine wissenschaftlich begründbare Position wie man meinen könnte, sondern die Absolutheit des Gesundheitsimperativs. Dieser geht einher mit einer quantitativen Risikominimierungslogik. Diese Logik kann definitionsgemäß niemals abgeschlossen sein, sondern muss aufgrund der stets vorhandenen Unsicherheit immer weiter arbeiten: Der Zweifel, ob sich nicht doch noch mehr Leben retten ließen, wird immerzu nagen – Gesundheit würde doch Recht schlagen. Auch die Verheißung, die Neuinfektionen durch Austrocknung (nahezu) ganz zu stoppen, würde dann nicht automatisch in die Wiedererlangung der Grundrechte münden, sondern in dieser Logik die Kontrollsucht nur verstärken. Denn die versteckte Gefahr bliebe auch danach bestehen, trotz vermeintlicher Beherrschbarkeit des Infektionsgeschehens. SARS-CoV-2 könnte jederzeit eben doch wiederkommen, vielleicht ja im nächsten Jahr, sich dann wieder exponentiell verbreiten und wir damit unser erreichtes «Lockdown-Guthaben» verspielen.

Man sieht: Der absolute Gesundheitsimperativ ist maßlos und kann daher kein Maßstab für eine konsistente Begründung bilden, die Menschenwürde zu relativieren, auch nicht vorübergehend. Die derzeit vorherrschende, ethisch und menschenrechtlich bedenkliche Auslegung des Infektionsschutz- bzw. Epidemiengesetz ist auch repräsentativ für diese Maßlosigkeit. Nicht mehr zwischen Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Gesunden zu unterscheiden und alle in Quarantäne zu stecken, weil alle generell und potenziell der Virenverbreitung verdächtig sind, ist Ausdruck dieser Maßlosigkeit. Und selbst ein Impfstoff böte ja keine absolute Sicherheit, wie man eines Tages überrascht feststellen würde. Der pandemische Notstand wäre nie mehr ganz vorbei. Etwas mehr quantitative Optimierung für Lebens- und Gesundheitsschutz ließe sich auch dann betreiben und wäre aus Sicht des verabsolutierten Gesundheitsimperativs sogar geboten.

Der Horror des Virus liegt also trotz seiner real verursachten medizinischen Tragödien nicht nur in seiner biologischen Komponente, sondern auch in der geistigen Art, wie wir als Menschen über ihn nachdenken und mit ihm leben. Und diese Horrorlogik können nur wir durchbrechen. Der entgrenzten Notstandslogik gilt es daher eine selbstbestimmte Grenze zu setzen im ethischen und menschenrechtlichen Sinn: Die Rückbesinnung auf den Maßstab der Menschenwürde.

Eine Erinnerung an die Verfassungsgerichte

Daher sei an die immer wachsamere Judikative erinnert. Und diese sei daran erinnert, dass sie eine rechtsstaatliche Verpflichtung hat, die Würde des Menschen vor allen Angriffen zu schützen – auch den unbeabsichtigten Angriffen mit zutiefst noblen Zielen. Deshalb wäre zu hoffen, dass sich die Verfassungsgerichte nun grundsätzlich der Frage der generellen Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren im Lichte der Menschenwürde annehmen.

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